
Der scharlachrote Vorhang
Auszug aus dem ersten Roman
von JoFrancis van den Berg
Excerpt from the first novel by JoFrancis van den Berg
(currently only availabe in German language)

Der schalachrote Vorhang
Kap 54: Pyramus und Thisbe
»Ich hätte eher Lust auf eine Radtour«, meinte Manon als ich sie fragte, ob wir uns in der Stadt treffen wollen. Da hatte ich eine Idee, die ihr gefallen würde.
»Deine was? Wald-kathe-drale?«, antwortete sie verwirrt.
»Wir brauchen nur gegenüber, den Boulevard zu überqueren, dort ist der Eingang des Forêt de Soignes, des Zonienwaldes. Zuerst muss man an den hochstämmigen Rotbuchen vorbei; sie bilden das Riesentor des hochstämmigen Waldes, der sich im Dickicht fortsetzt. Der Weg, der hindurchführt, bringt uns an eine große Lichtung, die aussieht wie eine Kathedrale. Mit dem Fahrrad brauchen wir dorthin nur dreißig Minuten. Hast du Lust?«
»Oh, ja, warum nicht?« Als wir den stark befahrenen Boulevard überquerten, türmten sich bereits Wolken am Himmel auf, die das Sonnenlicht verblendeten, und ihr Licht nur sporadisch in Streifen durchscheinen ließen. Es wurde schwül und eine starke Brise kam auf. »Meinst du, es wird Regen geben?« Sie blickte zu mir hinauf, als sie den Reifendruck prüfte. In unserem Leichtsinn hatten wir daraufhin auf die Räder geschwungen und uns frohen Mutes auf den Weg gemacht. Wir passierten das große Waldtor. Manon fuhr vorweg. Mir gefiel es, zuzusehen, wie sie mit wehendem Schal das Tempo vorgab. Als der Wald sich verdichtete und es still wurde, ließ unser Tempo nach. Wir ließen die Räder auslaufen, traten nicht mehr auf das Pedal und glitten geräuschlos in die Waldlichtung hinein. Wir lauschten, wie die Zweige unter unseren Reifen knackten, bis wir die Stelle erreichten.
»Wir sind angekommen!«, triumphierte ich und sprang vom Rad herunter.
»Schau, da wo das dichte Moos wächst, wie ein Teppich! Dort legen wir uns nieder!«
In der Stille lauschten wir, wie unsere Lungen sich aushauchten. Hoch über uns wehten die Kronen in der Spitze der Waldkathedrale.
»Gib mir deinen Schal«, sagte ich ohne Erklärung und gab zu verstehen, dass eine Überraschung auf sie wartete. Ich verband ihr die Augen, reichte ihr meine Hand und führte sie bis zum Moosteppich.
»Vertraue mir, hier ist die Stelle. Lasse dich auf den Rücken fallen, auf das warme Moos. Zähle bis drei und dann entferne ich die Augenblende.«
Sie zählte langsam: »Eins, zwei ...« und bei »drei« zog ich den Schal herunter, gab ihr die Sicht auf die Baumgipfel frei.
»Schau da oben, ist das nicht fantastisch? Diese Kuppel mit ihrem Spitzbogen«. Lichtbündel schossen durch das Laub, ähnlich wie das Sonnenlicht durch ein Kirchenfenster fällt.
Wir lagen beide eng aneinander, spürten die Wärme unseres Teppichs und betrachteten die Baumwipfel, wie diese sich im langsamen Takt wogen, ihre Blätter rauschen ließen, wobei das Licht sich durch ständig wechselnde Öffnungen in den Baumkronen lebhaft bewegte, und immer wieder neue Muster hervorzauberte. Es roch feucht und erdig und wir lauschten den Lockrufen der Vögel; Amseln, Baumpieper, Finken und Sperber und darüber hinaus dem Ruf des Kuckucks.
Wir verfielen in ein langes Schweigen, hörten uns das Trillern, Krächzen und Girren an. Zufällig berührten sich unsere Hände. Ich ließ sie meine Hand führen, bis meine Fingerkuppen ihre weiche Haut berührten. Am Himmel wurde es schlagartig düster, als hätte der liebe Gott den Vorhang zugezogen. Es fiel ein dicker Regentropfen, der auf Manons Stirn abperlte.
»Äh! War das ein Vogel oder fängt es an zu regnen?«, schrie sie aufgeschreckt. Kaum ausgesprochen, trat aus dem mittlerweile geschwärzten Himmel ein Blitz hervor, es folgten die ersten Paukenschläge.
»Ähh, wir sollten lieber aufbrechen«, meinte Manon. Und kaum im Sattel, da krachte es gewaltig in der Waldkathedrale, die ihr Dach geöffnet hatte und den Regen hinabstürzen ließ, als schütteten sich alle Wolken gleichzeitig aus.
»Schnell nach Hause!«, jetzt traten wir mit voller Kraft in die Pedalen, denn es hetzten die Gewitterdämonen uns hinterher.
Vom herabstürzenden Regen und Paukenschlägen getrieben, spurteten wir den Wald hinaus und erreichten etwa zehn Minuten später, bis auf die Knochen durchnässt, am Eingang des Waldes einen Unterschlupf unter dem Dachvorsprung der hölzernen Hütte. Wir sahen uns hechelnd an und lachten. Wieder zu Atem gekommen, starrte ich Manon schweigend an. Ich sah, wie Wassertropfen aus ihren Haarlocken, ihrer Stirn und ihren Wangenknochen hinunterkullerten und in ihrem Halsausschnitt wie kleine Perlen verschwanden. Ihre durchnässte Bluse klebte an ihrem Körper wie eine zweite Haut. Ihr Duft, der dampfend entwich, berauschte mich. Im tiefen Schatten des Unterschlupfs blitzten leuchtend ihre feuchten Lippen auf und die Blässe ihrer Wangen bildeten einen augenfälligen Kontrast. Bezaubernd sah sie aus. Das plötzliche Verlangen, sie zu küssen, überwältigte mich, aber ich traute mich nicht.
»Mein Schal!«, rief sie aus und tastete sich ab. »Ich habe unterwegs meinen Schal verloren!«
Sie tastete hektisch ihren Körper ab, stellte fest, dass sie ihn auf der Flucht verloren hatte. »Fahre du weiter heim, du brauchst nur an der Kreuzung den Boulevard zu überqueren. Meine Schwester ist zu Hause und wird dir das Badezimmer zeigen. Sie hat bestimmt was Passendes zum Anziehen.
»Ich fahre derweil zurück zur Lichtung und suche deinen Schal.«
Wir trennten uns, und durch einen Regenvorhang raste ich zurück in den Wald. Auf der halben Strecke sah ich den Schal in einer Wasserpfütze liegen. In diesem Moment fiel mir Ovids Epos mit der Sage von Pyramus und Thisbe* ein, die Collard, unser Lateinlehrer, im Unterricht vorgetragen hatte:
Als Pyramus und Thisbe sich heimlich treffen wollen, ohne dass es die verfeindeten Eltern erfahren, kommt Thisbe als Erstes am weißen Maulbeerbaum, ihr Treffpunkt, an. Sie gerät in eine brenzliche Situation, als sie vor eine Löwin fliehen einer muss, die gerade ein Vieh gerissen hat und an einer Quelle trinkt. Auf der Flucht vor der Löwin verliert Thisbe ihren Schleier. Die Löwin zerreißt diesen kurz
darauf und beschmiert ihn mit dem Blut des zuvor gerissenen Viehs.
Als Pyramus am Treffpunkt ankommt, bemerkt er gerade noch, wie die Löwin im Wald verschwindet und entdeckt Thisbes blutverschmierten und zerrissener Schleier. Er ist entsetzt, da
er glaubt, Thisbe sei von der Löwin getötet worden. Pyramus steht unter Schock und will ohne seine Geliebte nicht mehr weiterleben. Er beschließt daraufhin, sich mit seinem Schwert unter dem weißen Maulbeerbaum das Leben zu nehmen, und stürzt sich dort in das Schwert hinein. Thisbe kehrt nach kurzer Zeit unversehrt zum Treffpunkt zurück und entdeckt den Schwerverletzten, im Sterben liegenden Pyramus. Sie erkennt sofort die Situation und ist entsetzt. Sie will ohne Pyramus, der nicht mehr zu retten ist, nicht weiterleben und begeht ebenfalls Suizid, indem sie sich in dessen Schwert stürzt.
Mich überfiel plötzlich eine panische Angst:
Manon würde auf der Heimfahrt bei schlechter Sicht den Boulevard hastig überqueren wollen und von einem Fahrzeug, welches ebenfalls mit dem Wetter und schlechter Sicht zu kämpfen hatte, übersehen und überfahren werden.
Ich spürte mein Herz schlagen, wie Hammerschläge im Hals, und es war mir klar, dass ich zu spät zur Stelle sein würde, um sie warnen zu können. Ich zog den Schal aus der Wasserpfütze, steckte ihn ein, und trat in die Pedale, was das Zeug hielt. Auf halber Strecke hörte ich schon ein Martinshorn. Ich sah sie schon auf der Straße liegen, in einer Blutlache, wie meine Mama damals in Salzburg, nach ihrer Fehlgeburt. Ich schnappte nach Atem, kämpfte mit meiner Atemnot, sammelte meine letzten Kräfte und schnellte zur gefährlichen Kreuzung. Als ich am Boulevard ankam, rauschte der Verkehr durch das hinauf spritzende Wasser, welches die Straße in einen dichten Nebel einhüllte, der die Sicht verschleierte.
Als das letzte Fahrzeug vorbeigerauscht war, und der Nebel sich legte, zeigte sich der Boulevard leer; kein Krankenwagen, kein umgestürztes Fahrrad, keine Manon ...
Nur Stille und ein langsam aufsteigender Dampf, der sich von der nassen Fahrbahn abhob. In einem letzten Kraftakt gab ich alles, schoss über den Boulevard, warf am Hauseingang eingetroffen mein Rad an die Wand und huschte hinein. Lena kam mir entgegen.
»Manon, wo ist Manon?«, schrie ich hektisch und völlig aufgelöst. Ich hatte das Bild des von der Löwin zerrissenen Schleiers noch vor Augen.
»Was ist mit dir los, Joost? Fragte Lena verwirrt. Sie ist oben im Bad, zieht sich gerade die Sachen an, die ich ihr gegeben habe.« Ich rannte die Treppe hinauf, wollte mich vergewissern. Vielleicht irrte sich meine Schwester gewaltig?
Oben angekommen, öffnete sich die Tür.
Manon stand in einem Bademantel in der Türöffnung. Sie grinste mich an, hatte die Aufregung mitbekommen.
»Gott sei Dank! Ich dachte mir schon, dir wäre etwas zugestoßen«, hechelte ich. Sie lächelte, während sie ihre Haare trocknete und im Bad verschwand. Ich hing erschöpft am Treppengeländer und atmete tief durch ... also war das alles doch nur ... Einbildung ...? Ihr Schal war nicht der Schleier und die Wasserpfütze keine Blutlache ...
»Danke dir, dass du meinen Schal geholt hast«, flüsterte sie, als wir uns unten an der Treppe wieder trafen, und dann küsste sie mich hauchzart auf die Stirn.
Ich spürte ihre Wärme, atmete ihren betörenden Duft ein und schloss die Augen.
* Die Sage von Pyramus und Thisbe war in der Antike weit bekannt und ist in den erhaltenen Werken mehrfach erwähnt. Die früheste und ausführlichste Schilderung findet man in Ovids Epos über Verwandlungssagen mit dem Titel Metamorphosen 4,55- 166. Motive der im Altertum populären Erzählung oder die ganze Geschichte findet man auch in andere Werke, wie William Shakespeares Romeo und Julia, so wie Leonard Bernsteins West Side Story.