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Der scharlachrote Vorhang

Auszug aus dem ersten Roman

von JoFrancis van den Berg

 

Excerpt from the first novel by JoFrancis van den Berg

(currently only availabe in German language)

Signierstunde

Der schalachrote Vorhang

Ich erinnere mich daran...

Ich erinnere mich, 5 Jahre alt, an das Muster der Tapete meines Schlafzimmers – an die unzählig vielen tanzenden Figuren –, mit dicken Backen und leuchtenden Augen, die mich anlachten. Sie hatten mit ihrer Metamorphose gewartet, bis ich schlief, um sich heimlich und rechtzeitig zum nächsten Morgen im neuen Muster einzufinden, als wäre nichts geschehen.

 

Ich erinnere mich an meinen Kinderalbtraum: Ich war zuständig für den Nachschub des Kohleofens. Als ich unten ankam, nachdem ich die Treppe zum Kohlenkeller herabgestiegen war, begann ich zu schaufeln, was das Zeug hielt, weil dieser Raum mir unheimlich zumute war. Da stieg Luzifer persönlich aus dem Kohlehaufen. Ich rannte die Treppe hinauf, der Teufel an meinen Fersen, und dann passierte es immer an der gleichen Stelle – in der Treppenkurve –, dass sich meine Füße an der Treppe verklebten, und ich immer in diesem Moment erwachte, kurz bevor mich der Teufel krallte.

 

Ich erinnere mich an unseren ersten Urlaub in den österreichischen Alpen und wie ich, meine Nase an die kalte Fensterscheibe des Zugabteils gepresst, die vorbeirauschenden Dörfer und Wiesen anhauchte, bis sie verschwanden, und bald neue Dörfer und Landschaften auftauchten. Wie der Atemdunst auf der Scheibe sich legte, während der Zug im monotonen Rhythmus weiter stampfte und ständig hin und her schaukelte. 

 

Ich erinnere mich, wie meine Mutter auf der Rückreise unseres Urlaubs kurz vor Salzburg im Reisezug ihr fünftes Kind – unsere Schwester, die wir niemals kennenlernen durften – nach einer Fehlgeburt verloren hatte und sie dabei fast verblutete; wie der Waggon abgekuppelt wurde, Hammerschläge auf Metall erklangen, wie Panik sich breit machte und Mutter auf einer Tragbahre durch das Fenster des Zuges hinausgehoben und mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren wurde.

 

Ich erinnere mich, wie ich mich in einem Gasthof auf dem Klo versehentlich eingesperrt hatte und die Tür nicht mehr aufbekam und dann so lange laut geschrien hatte, bis jemand mich rettete.

 

Ich erinnere mich, wie mein Vater uns in das Mozarteum führte, wo es muffig nach altem Stein und tief versunkener Vergangenheit roch und ich mich von den Bühnenbildern der Zauberflöte, die Karl Friedrich Schinkel zur Erstaufführung gestaltet hatte, verzaubern ließ.

 

Ich erinnere mich, wie ich mit meiner Mutter mein erstes Puppentheater gezimmert hatte, an die Bühnenbilder und Figuren und vor allem an den Helden, der in meinen Aufführungen den Teufel besiegen sollte.

 

Ich erinnere mich, wie die Erwachsenen gebannt zuschauten, als ich sie durch das kleine Spundloch meines Theaters beobachtete, und wie ich mich über ihre Aufmerksamkeit freute.

 

Ich erinnere mich an meine Erstkommunion, als der Pastor mir aus einem goldenen Kelch die Oblate auf der Zunge verabreichte, während er murmelte: „Was die Zunge bekennt, bewahre im Herzen.“ Behutsam ließ ich sie auf der Zunge zerschmelzen, weil mein Freund Michel mir zugeflüstert hatte: nicht beißen! Denn es ist der Leib Christi. 

 

Ich erinnere mich daran, wie ich am Karfreitag in meiner Hauskapelle als Priester verkleidet, für die Freundinnen meiner Schwester die Messe las, die Mädels bis zum Hustenanfall den Weihrauchnebel ertrugen, und wie ich anschließend meinen älteren Bruder, Leo, den ich überzeugen konnte, Jesus zu spielen, ans Kreuz nagelte.

 

Ich erinnere mich, wie Leo, der als kleiner Junge mit seiner Sopranstimme an der Christkrippe meine Eltern zu Tränen gerührt hatte, mit seinen zerbrechlichen, kristallklaren Tönen und wie er eines Tages plötzlich seinen Stimmbruch erlitt, breite Schultern bekam, große Hände und einen Adamsapfel, während sich bei mir nichts tat und ich mir wie ein Spargeltarzan vorkam.

 

Ich erinnere mich, wie Pater Collard, unser Griechischlehrer, uns mit seinen atemberaubenden Erzählungen ins Reich der Götter führte, wo alles mit einem goldenen Apfel begann und wie Aphrodite Paris den magischen Zaubergürtel der Liebe umlegt hatte, der ihn unwiderstehlich machte. Mit überschwänglicher Andacht verfolgte ich Collards Vorträge, der mit seinem weißen gelockten Haar selbst wie ein Gott aussah und mich mit seinen dunkelblauen Augen, im Schatten seiner hervorstehenden Stirn – umrandet von buschigen Augenbrauen –, erinnerte an die Tiefen des Meeres, wo Poseidon hauste.  Ich erinnere mich, wie sein helles Gesicht, wie aus feinstem Marmor gemeißelt, nahezu perfekte Proportionen aufwies; eine edel geformte Nase, darunter kräftige, männliche Lippen, womit er im Unterricht uns leidenschaftlich wie blumig Homers Ilias vortrug und uns in Fantasiewelten verführte. Ich erinnere mich, wie es ihm zu verschulden war, dass ich am nächsten Morgen aus einem feuchten Traum aufwachte, nachdem mir im Traum von Aphrodite der magische Zaubergürtel umgelegt worden war.


 

Ich erinnere mich daran, dass ich daraufhin meinen Beichtvater angelogen hatte, als ich behauptete, niemals gegen das sechste Gebot verstoßen zu haben und ich mich hinterher wie Pegasus, das geflügelte Pferd, gefühlt hatte, das mit seinem Hufschlag aus dem Fels Helikon eine Quelle entspringen ließ, dessen Wasser einen daraus Trinkenden zum Dichten ermunterte.

 

Ich erinnere mich, wie ich, mittlerweile sechzehn, meine erste Liebe, Manon, mit einem dieser Gedichte verzauberte: 

 

Wenn ich als Schneeflocke vom Himmel fiele,

Halsbrecherisch an deiner Nase hängen bliebe,

du mich anschaust, und deine Augen schielen,

wenn ich vergnügt auf deiner Nase sitze,

danach auf deiner warmen Zungenspitze,

bleibt mir kaum noch Zeit, mich umzuwälzen

denn du lässt mich einfach schmelzen.

 

Ich erinnere mich an Manons – meinen ersten – Kuss: daran, wie meine Lippen bebten, wie unsre Wimpern sich berührten, als ich zitternd vor Aufregung die Augen schloss, ihre Zunge auf meiner spürte, und eine mir unbekannte Lüsternheit mich überwältigte, während ich Herzklopfen im Halse spürte. An ihre warme Zunge und ihren süßen blumigen Duft von Aprikosen mit einem Hauch von makellosem Jasmin.

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